Wolfsohn, Juliusz (Ilja, Julius) (1880–1944), Komponist, Pianist, Lehrer und Publizist

Wolfsohn Juliusz (Ilja, Julius), Komponist, Pianist, Lehrer und Publizist. Geb. Warschau, Russland (Warszawa, PL), 7. 1. 1880; gest. New York City, NY (USA), 12. 2. 1944; mos. Sohn des Geschäftsmanns Solomon W. und dessen Frau Glicka W., geb. Bloch, Neffe von David Wolffsohn, einem bedeutenden Zionisten und Nachfolger von →Theodor Herzl als Präs. der Zionist. Weltorganisation; ab 1912 mit Sophie W., geb. Plotzki, verheiratet. – W. wuchs in Moskau auf, wo sein Vater eine Fabrik besaß und wo er seinen ersten Musikunterricht bekam. 1888 wurde er in die Klavierkl. von Peter Schostakowski, Gründer und Leiter des Konservatoriums der Moskauer Philharmon. Ges., aufgenommen. Die Familie wurde 1891 wie die meisten Moskauer Juden aus der Stadt ausgewiesen und kehrte nach Warschau zurück. W. stud. am dortigen Konservatorium Klavier bei Alexander Michałowsky und Komposition bei Sigismund Noskowsky. 1898 ging er für ein Jahr nach Paris, wo er von Raoul Pugno unterrichtet wurde, anschließend hörte er musikwiss. Vorlesungen an den Univ. in Berlin und Leipzig und vervollkommnete sich als Pianist in Wien bei →Theodor Leschetitzky und dessen damaligem Ass. Ignatz Friedmann. Bereits während seines Stud. in Warschau trat W. als Pianist öff. auf, ab 1901 unternahm er Konzerttourneen im Russ. Reich, in Dtld. und weiteren europ. Ländern sowie später in den USA. 1902–04 wirkte er außerdem als Musikreferent einer Warschauer Tagesztg. 1906 übersiedelte er nach Wien, wo er sich i. d. F. auch als Klavierpädagoge einen Namen machte. W. unterrichtete am Lutwak-Patonay Konservatorium sowie privat, zu seinen Schülern gehörten Leo Birkenfeld, Héraclius Djabadary, Ernst (Ernest) Kanitz, Egon Lustgarten, Teodor Ryder, Beate Popperwell, Leo Sirota und Ignatz Waghalter. Im Wr. Musikleben hatte er einen festen Platz nicht nur als Solopianist, insbes. mit Werken von Chopin, sondern auch als Kammermusikpartner von →Arnold Rosé und Friedrich Buxbaum. Eine Professur an der Musikakad. blieb ihm vermutl. wegen seiner jüd. Konfession dennoch verwehrt. Er setzte seine musikpublizist. Tätigkeit mit Beitrr. für diverse österr. und poln. Periodika, darunter die Wr. jüd. Ztg. „Die Stimme“ und „Die neue Welt“, fort. Als Komponist wirkte W. ausschließl. auf dem Gebiet jüd. Musik, was nicht zuletzt auf seine familiäre Tradition zurückzuführen ist; die Ideen des Kulturzionismus waren ihm seit seiner Kindheit vertraut. 1919 initiierte er zusammen mit Erwin Felber in Wien die Ges. zur Erforschung und Förderung jüd. Musik. Vermutl. in diesem Zusammenhang begann er regelmäßig zu komponieren; um diese Zeit schuf er seine ersten Paraphrasen über altjüd. Volksweisen für Klavier, die 1921–25 in drei Bde. erschienen. Bei der ersten großen Veranstaltung der Ges. im Dezember 1920 hielt W. einen Vortrag über „Jüdische Volksmusik“ und spielte neun seiner Paraphrasen. Bald darauf musste die Ges. ihre Tätigkeit infolge der Wirtschaftskrise wieder einstellen. In den folgenden Jahren nahm W. aktiv am jüd. Kulturleben in Wien teil, trat als Pianist in den Veranstaltungen jüd. Ver. auf und hielt Vorträge über jüd. Musik. Sein bedeutendstes erhaltenes Werk ist die „Hebräische Suite“, die zunächst 1926 für Klavier komponiert, danach auch für Klavier mit Orchester (Urauff. 1931) umgearbeitet wurde. Seine Kompositionen, die sich durch ihre Nähe zum volkstüml. osteurop.-jüd. Musikidiom, pianist. Virtuosität und kolorist. Reichtum auszeichnen, genossen große Popularität. Sie wurden von verschiedenen Pianisten, etwa von Julius Isserlis, europaweit aufgef. W. war Mitbegründer und Vorstandsmitgl. des 1928 gegr. Wr. Ver. zur Förderung jüd. Musik, für den er sich vielfältig engag. Nach dem „Anschluss“ floh er zusammen mit seiner Frau im August 1939 in die USA, wo er sich musikal. nicht mehr betätigen konnte. Sein Nachlass, darunter fast sämtl. Musik-Mss., gilt heute als verschollen. Die Ersteinspielung der „Jüdischen Rhapsodie“, der „Hebräischen Suite“ und zweier Paraphrasen über altjüd. Volksweisen erfolgte 2008 durch Jascha Nemtsov.

L.: Wininger; J. Torbé, in: Die Stimme, 1932, Nr. 238, S. 7f.; J. Nemtsov, Die Neue Jüd. Schule in der Musik, 2004, s. Reg.; A. Sperlich, in: Jüd. Kunstmusik im 20. Jh., ed. J. Nemtsov, 2006, S. 137ff. (m. B.).
(J. Nemtsov)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 72, 2021), S. 333f.
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