Wolstein, Johann Gottlieb (1738–1820), Veterinärmediziner und Chirurg

Wolstein Johann Gottlieb, Veterinärmediziner und Chirurg. Geb. Flinsberg, Schlesien (Świeradów-Zdrój, PL), 14. 3. 1738; gest. Altona, Dänemark (Hamburg, D), 3. 7. 1820; evang. AB. Sohn des Handelsmanns und Ortsrichters Gottlob W. und dessen 2. Frau Elisabeth W., geb. Schwedler, außerehel. Vater des Kaufmanns Lentulus Chubb W. (1777–1817); ab 1789 verheiratet mit der Erzieherin Justina W., geb. Helmreich (Helmrich) (1757–1840). – Nach einer kurzen Lehrzeit bei einem Barbier erlernte W. die niedere Chirurgie zunächst in Wigandsthal bei dem Wundarzt Sigismund König und danach in Görlitz. 1760–69 vertiefte er seine Ausbildung in Wien im Spital der Barmherzigen Brüder sowie im Dreifaltigkeitsspital in Chirurgie bei Ferdinand Joseph Edler v. Leber, in Geburtshilfe bei Heinrich Johann Nepomuk Frh. v. Crantz sowie in Med. u. a. bei Anton de Haen. Daneben war er anfangs als Gehilfe des Wundarztes Georg Ziegler auf der Freyung tätig. Auf Veranlassung u. a. von Giovanni Alessandro Brambilla, dem Leibchirurgen Josephs II., wurde W. 1769 auf Staatskosten nach Alfort bei Paris geschickt, wo er sich bis 1773 an der Veterinärschule weiterbildete, aber auch seine chirurg. Kenntnisse in Humanspitälern vertiefte. 1773 ging er nach London, um bei Percivall Pott sowie John und William Hunter zu stud. und die Zucht von engl. Pferden und Schafen kennenzulernen. Anschließend gelangte er nach Aufenthalten in Holland, Hannover, Dänemark und Preußen nach Jena, wo er 1775 zum Dr. med. und Dr. chir. prom. wurde. Nach Wien zurückgekehrt, errichtete W. auf k. Befehl 1777 das k. k. Thierspital, an das die Vieharzneyschule angegliedert wurde. Im selben Jahr zum Prof. ernannt, stand er bis 1794 der Dion. dieser Institution vor und war somit einer der ersten Protestanten, die in den österr. Staatsdienst gestellt wurden. Die Vieharzneyschule wurde unter seiner Leitung zu einer weltweit führenden Ausbildungsstätte und war Vorbild für die tierärztl. Schulen in Budapest und Brüssel, an deren Aufbau W. ebenfalls mitwirkte. Darüber hinaus richtete er eine Fachbibl. v. a. mit hippolog. Werken aus England und Frankreich ein. Er machte sich aber auch um die Ausbildung von Schmieden und Pferdeärzten für die Armee verdient. Als Sympathisant der Französ. Revolution und Mitgl. der österr. Jakobinerbewegung wurde W. im August 1794 wegen der Teilnahme an einer jakobin. Verschwörung inhaftiert und in einem kriegsgerichtl. Verfahren zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt. Dieses Urteil wurde jedoch über allerhöchsten Entscheid auf Verlust seiner Professur und des Direktorats sowie mit einem Landesverweis abgemildert. 1795 übersiedelte W. nach Altona, von wo aus er weiterhin geschäftl. Beziehungen nach Wien unterhielt. In Altona wirkte er als Arzt und unterrichtete an der landwirtschaftl. Lehr- und Erziehungsanstalt von Lucas Andreas Staudinger in Groß-Flottbeck. Eine Berufung an die Univ. Jena 1795 lehnte er ebenso ab wie jene 1805 als Prof. der Tierheilkde. nach München. Daneben war er in liberalen Kreisen aktiv. W., der als Begründer der wiss. Tierheilkde. im dt. Sprachraum gilt, gehörte zu den weltweit führenden Personen auf diesem Gebiet. Er befasste sich theoret. und prakt. mit den Krankheiten der Haustiere sowie ab 1778 verstärkt mit Tierseuchen. Auch wenn er als charakterl. schwierig beschrieben wurde, war er fachl. unbestritten. Seine Werke über Seuchenbekämpfung waren international anerkannt und wurden in zahlreiche Sprachen übers. (z. B. „Anmerkungen über die Viehseuchen in Oesterreich“, 1781, 3. Aufl. 1782; „Annotazioni sopra l’epidemie del bestiame“, 1782). Der Vertrieb seiner Bücher dürfte ihm auch ein nicht unwesentl. Vermögen eingebracht haben. W. war Mitgl. der Leipziger ökonom. Societät, der Hamburg. Ges. zur Beförderung der Künste und nützl. Gewerbe (ab 1799), des kgl. schleswig-holstein. San.collegium zu Kiel (ab 1805, von dort erhielt er auch ein Ehrendoktorat), auswärtiges Mitgl. der Société de médecine de Paris (ab 1807) sowie der Veterinærselskab in Kopenhagen (ab 1813). 1813 wurde ihm das Ritterkreuz des kgl. dän. Dannebrog-Ordens verliehen.

Weitere W. (s. auch Wurzbach; Biograph.-literar. Lex.): Unterricht für Fahnenschmiede ..., 1779, 2. Aufl. 1796; Das Buch von Viehseuchen für Bauern, 1783 (Nachdruck 2016); Bruchstücke über wilde- halbwilde- Militär- und Landgestüte, 1788; Bemerkungen über die Entstehung und Verbreitung des Rotzes ..., 1807; Ueber das Paaren und Verpaaren der Menschen und der Tiere, 1815, 3. Aufl. 1836.
L.: AZ, 23. 8. 1925; ADB; Wurzbach (m. W.); Biograph.-literar. Lex. der Thierärzte aller Zeiten und Länder, 1863 (m. B. u. W.); Dt.österr. tierärztl. WS 7, 1925, S. 21ff. (m. B.); W. Lechner, in: Wr. Tierärztl. MS 21, 1934, S. 385ff.; 200 Jahre Tierärztl. Hochschule in Wien, 1968, s. Reg.; H. H. Egglmaier, Das med.-chirurg. Stud. in Graz, 1980, s. Reg.; Ch. Stanke – Ch. Mache, in: Sudetendt. Familienforschung 11, 2005, S. 209ff.; H.-W. Engels, in: Hamburg. Biografie 4, ed. F. Kopitzsch – D. Brietzke, 2008; M. Salzer – P. Karner, Vom Christbaum zur Ringstraße, 2008, s. Reg. (m. B.); Ch. Mache u. a., in: NS-Provenienzforschung an österr. Bibl., ed. B. Bauer u. a., 2011, S. 307; Wien Geschichte Wiki (Zugriff 12. 11. 2019); HHStA, Hist. Archiv der vet.-med. Univ., KA, UA, alle Wien; Evang.-Luther. Pfarrkirche Altona, D.
(G. Vavra)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 72, 2021), S. 341f.
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