Wurzbach von Tannenberg, Alfred Ritter (1845–1915), Kunsthistoriker, Kunstkritiker und Schriftsteller

Wurzbach von Tannenberg Alfred Ritter, Kunsthistoriker, Kunstkritiker und Schriftsteller. Geb. Lemberg, Galizien (L’viv, UA), 22. 7. 1845; gest. Wien, 12. 5. 1915; röm.-kath. Sohn von →Constant W. Ritter v. T. und dessen 1. Frau Antonie W. Edle v. T., Neffe von →Karl Borromeus W. Frh. v. T., Bruder u. a. von →Theodore W. Edle v. T., Vater des Romanisten Wolfgang W. Ritter v. T. (1879–1957); ab 1874 verheiratet mit Eugenie W. Edle v. T., geb. v. Lippmann-Lissingen (1854–1935), der Tochter des Bankengründers, Präs. der Prager HK, Kunstsammlers und Abg. zum RR Joseph Ritter v. Lippmann-Lissingen. – Der aus einem gebildeten und kulturbeflissenen Haus stammende W. erhielt seine schul. Ausbildung in Kremsmünster und Wien, wo er 1865 maturierte. Nach einem anschließenden Stud. an der jurid. Fak. der Univ. Wien trat er 1870 in die nö. Statthalterei ein. 1872 wechselte er als Sekr. in die Oesterr. Hypothekar-Renten-Bank, kehrte aber im Jahr darauf in die nö. Statthalterei zurück, wo er in der Bez.hptm.schaft Hernals die Funktion eines Konzipienten innehatte. 1876 quittierte er den Staatsdienst und lebte fortan überwiegend als freier Autor, Feuilletonist und Kunstforscher. Schon in jungen Jahren zeigte W. eine starke Neigung zur literar. Darstellung kulturhist. Themen, die er populärwiss. aufzubereiten wusste. Für den angesehenen A. Hartleben’s Verlag verf. er 1871 die einprägsamen Schilderungen „Zeitgenossen. Biographische Skizzen“ (darunter Richard Wagner, Ferdinand Lassalle, Alexandre Dumas, Wilhelm v. Kaulbach). Bekanntheit erlangte W. überdies durch seine als Pikanterie angekündigte Novelle „Laura“ (1873), die v. a. von der konservativen Presse als frivoles Machwerk bezeichnet wurde. Auch als Autor von Theaterstücken trat W. in Erscheinung. Sein Lustspiel „Ich habe Sitzung“ wurde 1871 zwar von der Leitung des Burgtheaters angenommen, kam jedoch nicht zur Auff. Nach ausgedehnten Reisen u. a. durch Dtld., Frankreich, Spanien und die Niederlande konzentrierte sich W. überwiegend auf die Geschichte der bildenden Kunst. Wohl angeregt durch die wertvolle Gemäldesmlg. seines Schwiegervaters und gefördert von →Mori(t)z Thausing, dem Leiter der Albertina, publ. W. erste Aufsätze zur holländ. Malerei des 17. Jh., die überwiegend in der „Zeitschrift für bildende Kunst“ sowie im „Repertorium für Kunstwissenschaft“ erschienen. Darin übte er oft scharfe Kritik an seinen Kollegen, namentl. an Wilhelm v. Bode und Cornelis Hofstede de Groot, hinterfragte das Prinzip der Kennerschaft und prangerte die fragwürdige Nähe mancher Forscher zum Kunstmarkt an. 1876 steuerte er für Robert Dohmes Ser. „Kunst und Künstler des Mittelalters und der Neuzeit“ eine Abh. über „Die niederländischen Landschafts-, See-, Thier- und Schlachtenmaler des XVII. Jahrhunderts“ bei, mit der er – wiewohl als Kunsthistoriker Autodidakt – 1879 an der Univ. Wien zum Dr. phil. prom. wurde. Im Auftrag seines Doktorvaters →Rudolf v. Eitelberger-Edelberg arbeitete W. in den späten 1870er-Jahren an der ersten dt. Übers. von Arnold Houbrakens „De groote schouburgh der Nederlantsche konstschilders en schilderessen“ (1718–21), die 1880 gekürzt als 14. Bd. der Wr. „Quellenschriften für Kunstgeschichte und Kunsttechnik des Mittelalters und der Renaissance“ erschien. Im selben Jahr wandte sich W. verstärkt der Journalistik zu und arbeitete bis 1887 bei der neu gegr. liberalen „Wiener Allgemeinen Zeitung“, wo er als Feuilletonist heftige Polemiken etwa gegen →Hans Makart und →Anton Romako führte. Wiss. Stud. betrieb er jedoch auch weiterhin und schrieb u. a. über Martin Schongauer, Rogier van der Weyden und Rembrandt. 1885 veröff. er seine „Geschichte der holländischen Malerei“, in der er als einer der ersten dt.sprachigen Kunsthistoriker eine positive Bewertung der Kunst Jan Vermeers vornahm. Als W.s Hauptwerk gilt sein dreibändiges „Niederländisches Künstler-Lexikon“ (1904–11), in dem er als Resultat einer rund 30-jährigen Forschungsarbeit die Biographien von über 3.000 fläm. und holländ. Malern und Graphikern versammelte. W., Träger der Goldenen Medaille für Kunst und Wiss. (1880) sowie des Ritterkreuzes I. Kl. des kgl. bayer. Verdienstordens vom Hl. Michael, besaß eine rund 500 Bll. zählende Smlg. von Kupferstichen nach Werken Rembrandts, die 1912 im Dorotheum zur Versteigerung kam. Die in Familienbesitz befindl. Smlg. holländ. Gemälde ging 1957 als Schenkung an die Gemäldegalerie der ABK in Wien. Darunter befand sich u. a. Samuel van Hoogstratens „Trompe-l’œil-Stilleben“, das heute zu den Hauptwerken der Galerie zählt.

L.: FB, 17. 5. 1915 (Abendausg.); Eisenberg 1; Kosel 1; Wurzbach; Auktionskat. der Kupferstichsmlg. des Kunsthistorikers Dr. A. v. W., 1912; W. Krieg, in: Das Antiquariat 10, 1954, S. 141ff.; M. Poch-Kalous, in: Jb. der Kunsthist. Smlgg. in Wien 55, 1959, S. 159ff.; C. B. Scallen, Rembrandt, Reputation, and the Practice of Connoisseurship, 2004, S. 52ff., 215ff.; A. Dobslaw, Die Wr. „Quellenschriften“ und ihr Hrsg. R. Eitelberger v. Edelberg, 2009, S. 83f., 312ff.
(G. Vasold)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 72, 2021), S. 376f.
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