Ziller, Hermann (1825–1892), Journalist und Funktionär

Ziller Hermann, Journalist und Funktionär. Geb. Steinach, Sachsen-Meiningen (D), 2. 5. 1825; gest. Wien, 16. 4. 1892; evang. AB. Sohn des Pastors Friedrich Z. (1785–1838), Bruder u. a. des Philosophen und Pädagogen Tuiskon Z. (1817–1882) und des Ökonomen und Politikers Rudolf v. Z. (1832–1912); ledig. – Nach Besuch des Gymn. in Meiningen stud. Z. 1843–45 Mathematik und Naturwiss. an der Univ. Leipzig. I. d. F. wirkte er als Lehrer im schles. Waldenburg. In den 1860er-Jahren übersiedelte er nach Wien, wo er sich dem Journalismus zuwandte und 1862–63 die „Wiener Kaufmannshalle“ red. Danach wurde er Mitarb. im Wirtschaftsteil der konservativen Ztg. „Das Vaterland“, Ende der 1860er-Jahre der „Presse“. Im Frühjahr 1865 beteiligte er sich an der Gründung des Ver. für volkswirtschaftl. Fortschritt und wurde in dessen Vorstand gewählt. Im Jänner 1867 in den Vorstand des Gumpendorfer Consumver. aufgenommen, vertrat er diesen in den Beratungen der Teuerungs-Enquete-Komm. 1869–70 und entwickelte sich zu einem Experten auf dem Gebiet der Volkswirtschaft. Z. vertrat bereits Anfang 1868 die Prinzipien der genossenschaftl. Selbsthilfe, wie sie Hermann Schulze-Delitzsch in Dtld. propagierte, und geriet darüber in Kontroverse mit →Ferdinand Kronawetter. Er veröff. zwei Broschüren („Die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und deren Besteuerung“, 1870) sowie mehrere Aufsätze in der „Presse“, in denen er die genossenschaftl. Interessen vertrat, und hatte maßgebl. Anteil an einer Denkschrift über die Bedeutung der Genossenschaften, die dem RR überreicht wurde. Um ein geschlossenes Auftreten in der Frage der Besteuerung zu ermöglichen, rief Z. – erfolglos – im März 1871 zur Abhaltung eines gesamtösterr. Genossenschaftstags auf. Unterstützung erfuhr er durch →Karl Pickert, der im Juni 1871 erfolgreich einen Antrag auf eine gesetzl. Regelung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften einbrachte. Das entsprechende Gesetz trat 1873 in Kraft. Z. und Pickert waren auch maßgebl. an der Gründung der „Deutschen Zeitung“ im Dezember 1871 beteiligt: Beide fungierten als Hrsg. und Pickert als Chefred. Aufgrund von Differenzen über die polit. Linie der Ztg. und rivalisierender Führungsansprüche in der Genossenschaftsbewegung schied Z. bereits im April 1872 als Hrsg. aus. Pickert rief Ende Mai zur Gründung eines Allg. dt.-österr. Genossenschaftstags auf, wobei er versuchte, die Genossenschaften den polit. Ambitionen der neuen dt.nationalen Bewegung unterzuordnen. Zahlreiche bereits bestehende Genossenschaften, angeführt von Z., forderten erfolglos eine Vertretung bei dieser Tagung. Damit entstanden vorübergehend zwei konkurrierende Verbände: ein stärker dt.national ausgerichteter unter Führung Pickerts und der auf Vorarbeiten Z.s basierende Allg. Verband der auf Selbsthilfe beruhenden Österr. Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (heute: Österr. Genossenschaftsverband), als dessen Verbandsanwalt Z. 1874–92 fungierte (bereits 1872 hatte er dessen Verbandsbl. „Die Genossenschaft“ gegr.). Erst als Pickert sein RR-Mandat verlor und 1873 Wien verließ, wurde eine Vereinigung beider Verbände möglich. Da eine scharfe Abgrenzung gegenüber den Raiffeisenkassen erfolgte, waren der Popularität der Ideen von Schulze-Delitzsch in der bäuerl. Bevölkerung jedoch enge Grenzen gesetzt.

Weitere W.: Das Genossenschaftsgesetz und die Organisation der Vorschußver., 1873; Das Genossenschaftsgesetz und die Organisation der Consumver., 1873; Ber. über die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft in Österr. und Ungarn …, 1876ff.
L.: Dt. Ztg., 30. 7., Das Freie Bl., 3. 12. 1872; Die Presse, NFP, 17. 4. 1892; RP, 31. 5. 1932; Die Genossenschaft 1, 1872, S. 1ff., 21, 1892, S. 61f., 39, 1910, S. 244ff.; J. Brazda u. a., Selbsthilfe oder politisierte Wirtschaft, 1997, S. 32ff.; Genossenschaftswiss. zwischen Theorie und Geschichte, ed. J. Laurinkari u. a., 2014, S. 347f.; Luther. Stadtkirche, Wien; UA, Leipzig, D.
(Th. Venus)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 73, 2022), S. 538f.
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