Zilsel, Edgar; Ps. Rudolf Richter (1891–1944), Philosoph und Soziologe

Zilsel Edgar, Ps. Rudolf Richter, Philosoph und Soziologe. Geb. Wien, 11. 8. 1891; gest. Oakland, CA (USA), 11. 3. 1944 (Suizid); bis 1929 mos., 1934 Wiedereintritt in die IKG. Sohn des Rechtsanwalts Dr. Jakob Z. (1852–1927) und seiner Frau Lina Z., geb. Kollmann (gest. 1928); ab 1919 mit der Lehrerin Dr. Ella Breuer verheiratet. – Nach dem Besuch des Franz-Joseph-Gymn. 1902–10 stud. Z. an der Univ. Wien Phil., Mathematik und Physik und wurde 1915 zum Dr. phil. prom. Zunächst als Versicherungsmathematiker tätig, stud. er 1916–18 erneut an der Univ., um die Lehramtsprüfung für Mittelschulen abzulegen. Seine Lehrtätigkeit nahm er bereits 1917 auf. Ab dem Schuljahr 1923/24 wurde Z. vom Stadtschulrat beurlaubt, um an den Wr. Volkshochschulen in Ottakring, Simmering und Leopoldstadt als Doz. für Physik und Phil. wirken zu können. Am Pädagog. Inst. der Stadt Wien war er im Sommersemester 1924 und ab dem Sommersemester 1925 bis zum Wintersemester 1931/32 als Phil.-Doz. beschäftigt. Diese Tätigkeiten waren auch Ausdruck seiner linksliberalen polit. Einstellung, die sich v. a. in seinen Artikeln im sozialdemokrat. Bl. „Der Kampf“ zeigt. Die von Z. angestrebte Habil. 1923/24 wurde von der „Bärenhöhle“, einem antimarxist., antisemit. Netzwerk an der Univ. Wien, verhindert. Zu seinen wichtigsten wiss. Arbeiten zählen – neben seiner Diss. „Das Anwendungsproblem. Ein philosophischer Versuch über das Gesetz der großen Zahlen und die Induktion“ (1916) – v. a. „Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal …“ (1918, Neuausg. 1990) und „Die Entstehung des Geniebegriffes. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus“ (1926). Darüber hinaus ist auf seine Fachartikel in „Erkenntnis“ oder „Philosophy of Science“ zu verweisen, ebenso auf seine knapp 50 Rezensionen in „Die Naturwissenschaften“. Gängig ist die Einteilung der Schriften Z.s in Publ. zur Entstehung des modernen Persönlichkeitsideals und zum Geniekult, in soziolog. Analysen von Ideol. sowie in Beitrr. zur Entstehung der neuzeitl. Wiss. Z. war regelmäßiger Teilnehmer an den phil. Diskussionsrunden des Wr. Kreises, hielt aber stets krit. Distanz zu den Hauptproponenten →Moritz Schlick, Rudolf Carnap und →Otto Neurath und wird deshalb der Peripherie dieser Gruppe zugeordnet. Im öff. auftretenden Ver. der Gruppierung, dem Ver. Ernst Mach, der sich der Popularisierung einer wiss. Weltauffassung verpflichtet sah, war er aber von 1928 bis zu dessen Verbot 1934 Vorstandsmitgl. Nach dem Ende der Demokratie 1933 wurde Z. 1934 aus polit. Motiven an den Volkshochschulen entlassen, in den Schuldienst rückversetzt und nach dem „Anschluss“ Österr. 1938 zwangspensioniert, da er jüd. Abstammung war. Im selben Jahr emigrierte er mit seiner Familie nach England und 1939 weiter in die USA. Auch im Exil musste Z. unterrichten, um seine Existenz zu sichern, zunächst am Hunter College der City University in New York, dann am Mills College in Oakland. Obwohl weiterhin bemüht, eigene Forschungsprojekte mit Unterstützung der Rockefeller Foundation, des Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars oder des Social Research Council umzusetzen, konnten diese nie fertiggestellt werden. Psychosoziale Einschränkungen vereitelten letztl. eine erfolgreiche Emigration.

Weitere W.: Soziolog. Bemerkungen zur Phil. der Gegenwart, in: Der Kampf 23, 1930; Bemerkungen zur Wiss.logik, in: Erkenntnis 3, 1932/33; SA. philosophiert, in: Der Kampf 26, 1933 (unter Ps.); Physics and the Problem of Historico-sociological Laws, in: Philosophy of Science 8, 1941.
L.: J. Behrmann, in: Die sozialen Ursprünge der neuzeitl. Wiss., ed. W. Krohn, 1976, S. 44; J. Dvořak, in: E. Z., Die Geniereligion. Ein krit. Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal mit einer hist. Begründung, ed. J. Dvořak, 1990, S. 7ff.; F. Stadler, Der Wr. Kreis, 2015, S. 509ff. (m. B.); E. Z.: Philosopher, Historian, Sociologist, ed. D. Romizi u. a., 2022.
(J. Pircher)   
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 73, 2022), S. 539
Bd. <==> | |<1  <=−10<=  S. 1 =>+10=>
Bd. <==> | |<1  <=−10<=  S. 1 =>+10=>