Tullinger, Paula (1858–1925), Schauspielerin, Sängerin und Pädagogin

Tullinger Paula, Schauspielerin, Sängerin und Pädagogin. Geb. Wien, 4. 8. 1858 (?); gest. Leipzig, Dt. Reich (D), 8. 2. 1925. Tochter des Magazin-Oberverwalters der Bergwerks-Produkten-Verschleiß-Dion. und k. Rats Titus T., Schwester von Bertha T. und Moritz T. (beide s. u.). – T. sollte auf Wunsch der Eltern Lehrerin werden, konnte aber 1874–76 eine Ausbildung bei Joseph v. Weilen, →Alexander Strakosch und Bernhard Baumeister (→Bernhard Baumüller) an der neu gegr. Schauspielschule des KdM durchsetzen. Die ersten öff. Auftritte im Rahmen dieser Ausbildung zeigten so großes Talent für das Lustspiel- und Soubrettenfach, dass sie von →August Förster sofort für das Stadttheater Leipzig engag. wurde, wo sie 1876–82 auch mit weitaus anspruchsvolleren Partien betraut wurde, denen sie allerdings erst im Lauf der Zeit unter Anleitung Försters gewachsen wurde. Sie debüt. hier 1877 zudem als Sängerin (Pamina in Mozarts „Zauberflöte“), doch blieben die Ausflüge in die Opernwelt vorerst vereinzelt. Nach einer Saison 1882/83 am Hoftheater in Kassel wurde sie 1883 an das Hoftheater in Dresden engag., dem sie als ständiges Mitgl. bis 1898 angehörte. Ihr eigentl. Rollenfach war das der jugendl. Liebhaberin, in welchem ihre Anmut, ihr ungezwungenes Spiel und heiteres Temperament bes. gut zur Geltung kamen. Tatsächl. trat sie jedoch in einem breiten Repertoire auf, das von Shakespeare (Puck im „Sommernachtstraum“, Julia in „Romeo und Julia“, Ophelia in „Hamlet“, Perdita im „Wintermärchen“) über Goethe (Sophie in „Clavigo“ und Gretchen in „Faust“) und Ibsen (Martha Bernick in „Die Stützen der Gesellschaft“) bis zu modernen Lustspielen (Titelpartien in „Aschenbrödel“ von Roderich Benedix und „Therese Krones“ von →Karl Haffner, weibl. Hauptrolle in „Ein Schritt vom Wege“ von Ernst Wiechert) und einzelnen Opern (bes. Pamina in der „Zauberflöte“) reichte. Zahlreiche Gastspiele führten sie auch in kleinere Theater in Sachsen. 1898 wandte sie sich ganz dem Gesang zu, nachdem sie heiml. Unterricht bei Giovanni Lamperti genommen hatte, und absolv. bis 1902 zahlreiche Gastspiele als Koloratursopran (u. a. in Dresden, Hamburg, Leipzig, Essen, Görlitz und Chemnitz) mit stark wechselndem Erfolg. Durch ihre anmutige und rührende Interpretation vermochte sie bes. als Traviata zu überzeugen, aufgrund mangelhafter Spitzentöne und offensichtl. Nervosität misslangen Auftritte als Lucia di Lammermoor, Königin der Nacht (mit tiefer transponierten Arien), Gilda („Rigoletto“) oder Marguerite („Hugenotten“). Gute Kritiken brachten dagegen Konzerte und Liederabende mit barocken Arien und dem romant. Liedrepertoire. Neben ihrer Bühnentätigkeit versuchte T. sich auch als Schriftstellerin, ihr Lustspiel „In Fesseln der Liebe“ erschien 1883. Hinzu kam eine umfangreiche Lehrtätigkeit in Deklamation und Gesang (1895/96 an der Theater- und Redekunst-Schule von Senff-Georgi in Dresden, 1905–08 im Zweig Berufsstud. der Dresdner Musik-Schule, 1903–12 im eigenen Studio an verschiedenen Adressen in Dresden). Ihren Lebensabend verbrachte T. in Zschieren bei Dresden, wo sie ab 1904 wohnte. Ihre Schwester Bertha T. (geb. Wien, 1861; gest. nach 1905?) war nach dem Stud. 1876–78 an der Schauspielschule des KdM bei →Konrad Adolf Hallenstein von Oktober bis Dezember 1878 als jugendl. Liebhaberin in Leipzig an der Seite ihrer Schwester engag. und wechselte danach ans Hoftheater Schwerin. Hier reifte sie unter dem Einfluss des Intendanten Alfred v. Wolzogen zu einer beliebten und vielbeschäftigten Schauspielerin für erste jugendl. Liebhaberinnen, aber auch Naive und Heldinnen (Gretchen, Klärchen, Käthchen von Heilbronn, Desdemona, Luise Miller, Jungfrau von Orleans). 1884 beendete sie jedoch ihre Bühnentätigkeit nach der Heirat mit dem Großindustriellen Fritz Herold. Ihr Bruder, der Sänger Moritz T. (geb. Wien, 22. 9. 1866; gest. Lussinpiccolo, Istrien / Mali Lošinj, HR, 26. 1. 1901), stud. Gesang bei Johann Faistenberger in Wien und beeindruckte v. a. durch exzellentes Schauspiel, deutl. Aussprache, prägnante Phrasierung und insgesamt durchdachte musikal. Gestaltung. Dem eklatanten Mangel an Lautstärke und Tragfähigkeit seiner an sich schönen lyr. Baritonstimme versuchte Moritz T. durch häufiges Forcieren entgegenzuwirken, was jedoch einen gequetschten Stimmklang und Intonationsprobleme mit sich brachte, so dass der Gesamteindruck in größeren Theatern nicht überzeugte. Fest engag. war er 1887–89 in Mainz, 1889–90 am Dt. Theater Rotterdam, 1890–91 in Weimar, 1891–92 (als Gast für die Saison) in Bielitz (Bielsko-Biała), 1892–93 in Nürnberg, 1893–99 in Straßburg (Strasbourg) und 1899–1900 in Hamburg. Sein 97 Partien umfassendes Repertoire reichte von Mozart (Gf. Almaviva in „Figaros Hochzeit“, Sprecher in „Die Zauberflöte“) über italien. und französ. Partien (Taddeo in Leoncavallos „Bajazzo“, Luna in Verdis „Troubadour“, Lothario in Thomas’ „Mignon“, Escamillo in Bizets „Carmen“) bis ins dt. Fach (Ottokar in Webers „Freischütz“, Johannes in Kienzels „Evangelimann“, Telramund, Kurwenal, Holländer, Wolfram und Sachs in Wagner-Opern). Daneben lassen sich vereinzelt Konzerte, v. a. mit dem Kaim-Orchester unter →Ferdinand Löwe, nachweisen, bei denen T. als Lied- und Oratoriensänger (bes. Hugo Wolf und „Christus“ von Liszt) gefeiert wurde. Spätestens Anfang 1900 traten erste Anzeichen einer längeren Krankheit auf; ein Engagement an die Wr. Hofoper kam nach einem in der Presse kontroversiell diskutierten Gastspiel nicht zustande, die Verpflichtung ans Theater an der Wien als Sänger und Regisseur wurde schließl. durch T.s Tod während eines Kuraufenthalts vereitelt.

L.: Neue Hamburger Ztg., 23., 28. 1., 3. 2. 1900; Eisenberg, Bühne (auch für Moritz T.); Dt. Bühnen-Almanach 41ff., 1877ff. (auch für Bertha T. und Moritz T.); F. Rüffer, Geschichte des Leipziger Stadttheaters unter der Dion. Dr. Förster, 1880, S. 11, 52; A. Kohut, Das Dresdner Hoftheater in der Gegenwart, 1888, S. 67ff.; Neuer Theater-Almanach 1ff., 1890ff. (auch für Bertha T. und Moritz T.); Musikal. Wochenbl. 30, 1899, S. 362, 679; Der junge Kainz, ed. A. Eloesser, 1923, S. 56ff.; KdM, Wien (auch für Bertha T.). – Bertha T.: K. v. Ledebur, Aus meinem Tagebuche, 1897, S. 17, 20, 27, 33; H. Tank, in: Jbb. des Ver. für Mecklenburg. Geschichte und Altertumskde. 88, 1924, S. 59ff. – Moritz T.: Neue Hamburger Ztg., 22., 25. 1. 1899; Der Humorist, 10. 1. (m. B.), 10. 4., 10. 5., 11. 6. 1900.
(Ch. Pollerus)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 14 (Lfg. 66, 2015), S. 508f.
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