Wittgenstein, Karl (Carl) (1847–1913), Unternehmer

Wittgenstein Karl (Carl), Unternehmer. Geb. Gohlis, Sachsen (Leipzig, D), 8. 4. 1847; gest. Wien, 20. 1. 1913; evang. AB. Sohn des Wollgroßhändlers und späteren Braunkohleindustriellen, Gutsbesitzers, Immobilienhändlers landwirtschaftl. Güter und Gen.pächters der fürstl. Esterházy’schen Herrschaften Hermann Christian W. (geb. 15. 9. 1802; gest. 19. 5. 1878; mos., ab 1839 evang.) und der Wr. Wollhändlers- und Bankierstochter Franziska (Fanny) W., geb. Figdor (geb. 7. 4. 1814; gest. 21. 10. 1890; mos., ab 1839 evang.), Bruder von Paul W. (geb. Gohlis, 18. 12. 1842; gest. Wien, 7. 11. 1928), der nach jurist. Stud. in Wien auch bei der Österr. Rückversicherungs-Ges. in Wien sowie im Familienunternehmen tätig war und die Wr. Werkstätten förderte, und Ludwig W. (s. u.), Vater u. a. des Pianisten Paul W. (geb. Wien, 5. 11. 1887; gest. Manhasset, NY, USA, 3. 3. 1961) und des Philosophen Ludwig W. (geb. Wien, 26. 4. 1889; gest. Cambridge, GB, 29. 4. 1951); ab 1874 mit Leopoldine W., geb. Kalmus, verheiratet. – W. übersiedelte mit seinen Eltern 1851 nach Vösendorf und 1860 nach Wien. Ab 1857 besuchte er das Akadem. Gymn., das er vorzeitig verließ, und ging 1865/66 in die USA. Nach seiner Rückkehr stud. er als ao. Hörer 1867/68 am polytechn. Inst. in Wien und arbeitete daneben als techn. Zeichner in der Maschinenfabrik der Staatseisenbahn-Ges. ebd. Anschließend war er Ing. einer Schiffswerft in Triest, bei der ung. Nordostbahn, bei der Eisengewerksges. in Mariazell und bei den Eisenwerken in Ternitz. Seitdem wurde er von seinem Verwandten →Paul Kupelwieser gefördert und wirkte 1872 beim Aufbau der Teplitzer Walzwerke als Planer der Ind.anlage und Leiter der Bessemerhütte mit. Ab 1874 vertrat er die Fa. in Wien und übernahm 1876 als Nachfolger Kupelwiesers die Gen.dion. des Teplitzer Werks. Von Wien aus rekonstruierte und erweiterte W. das Unternehmen, akquirierte russ. Staatsaufträge und erwarb 1880 die Lizenz für das Thomas-Verfahren der Stahlverhüttung. 1877 initiierte er das erste österr. Montankartell für Eisenbahnschienen. Er gründete ein Konsortium zum Erwerb der Aktienmehrheit des Teplitzer Walzwerks und übernahm 1884 auch die Aktien der Böhm. Montanges. Im selben Jahr beteiligte er sich am Bau der Feinblechwalzwerke Rudolfshütte in Eichwald bei Teplitz. 1885–98 leitete er als Zentraldir. von Wien aus die Prager Eisen-Ind.-Ges. und schuf 1886 durch Aktientausch und -kauf sowie Absprachen das erste Eisenkartell der Monarchie, das später dann sowohl die böhm.-mähr.-schles. als auch die österr.-stmk. Märkte dominierte. Das W.-Konsortium erwarb auch die Aktienmehrheit der Schles. Kohlen- und Kokswerke in Gottesberg und investierte in Schächte bei Brüx sowie 1889 in die Königshofer Zementfabrik bei Beraun. 1887 erfolgte der Kauf der St. Egydyer Eisen- und Stahl-Ind.-Ges., 1889 die Gründung der Poldihütte in Kladno und 1890 die Konzentration der obersteir. Sensenind. in den Vereinigten Sensenwerken in Judenburg. Neben seinem strateg. Vorgehen, seinem Verhandlungsgeschick und seiner Konzentrationspolitik setzte W. in den von ihm beherrschten Firmen konsequent eine Modernisierung der Produktionstechnik, Rationalisierung der Betriebsabläufe und Schließung von unproduktiven Bereichen ohne Rücksicht auf soziale Folgen durch. Hohe Gewinne wurden durch die Kartellierung, die horizontale wie vertikale Integration der Betriebe, die Aktiengeschäfte, die Auflösung finanzieller Rücklagen in den erworbenen Firmen und das Eintreten für Schutzzölle generiert. 1897 erreichte W. mit dem Kauf der Aktienmehrheit der Oesterr.-Alpine Montanges., der Übernahme eines Verw.R.sitzes der Oesterr. Creditanstalt und der Vizepräs.schaft des Zentralver. der Bergwerksbesitzer Österr. den Höhepunkt seiner Karriere. Die geplante Ausschüttung stiller Reserven der Prager Eisenind.ges. und die Fusion zweier Banken führte dazu, dass sich neben der Arbeiterschaft auch Aktionäre, die industriellen Abnehmer und die Wr. Regierung gegen seine Machtstellung und die entstandenen Kartelle wandten. Daraufhin zog W. sich aus den meisten Unternehmen zurück, trat eine Weltreise an und erwarb den Landsitz Hochreith im nö. Hohenberg. W., der „Stahlkönig“ und Manager-Unternehmer, galt als „Amerikaner in Österreich“ und nach 1900 als reichster und erfolgreichster Industrieller Wiens. Ab 1911 verkaufte er seine Anteile an der österr. Montan-Ind. und erwarb Immobilien in der Habsburgermonarchie und Anlagen sowie Aktien- und Ind.besitz im Ausland, insbes. in der Schweiz, in den Niederlanden und den USA, wo er u. a. an der United States Steel Corporation beteiligt war. Der Musikliebhaber führte gem. mit seiner Frau in Wien einen musikal. Salon, sammelte neben Musikalien auch Gemälde und stand in engem Kontakt mit Künstlern wie →Johannes Brahms und →Joseph Joachim. Er vergab Aufträge an →Gustav Klimt, Josef Hoffmann und die Wr. Werkstätte und finanzierte 1897 maßgebl. den Bau des Secessionsgebäudes in Wien. Die Fa. H. Wittgenstein & J. Figdor und Söhne führten als Unternehmer und Gutsbesitzer die älteren Brüder Paul W. und Ludwig (Louis) W. (geb. Gohlis, 26. 7. 1845; gest. Wien, 23. 3. 1925) fort. Letzterer war Schwiegersohn von →Gottfried Franz, fungierte jahrzehntelang als Gmd.vertreter der evang. Kirche HB in Wien und widmete sich insbes. der evang. Armen- und Sozialfürsorge. Unter seiner Leitung und durch seine Spenden konnte ab 1899 der Evang. Waisenversorgungsver. seine Tätigkeit erweitern und Pflegeheime in Schladming sowie 1907 in Goisern aufbauen. Ludwig W., der 1896/97 Eigentümer der „Hausherren-Zeitung“ war und später Obmann des Ver. gegen Verarmung und Bettelei in Wien wurde, verwaltete nach Karls Tod dessen Erbe als Treuhänder für die Kinder und investierte im Ausland. Privat kaufte er 1913 die Burg Hollenburg in Südktn. und legte 1919 seine österr. Staatsbürgerschaft ab, um seinen jugoslaw. Besitz zu sichern.

W.: The causes of the development of industry in America, 1898; Ztg.artikel und Vorträge, 1913 (engl.: Politico-economic writings, 1984).
L.: NFP, 21. (m. Parte), 22. 1. 1913; The Times (London), 22. 1. 1913; Großind. Österr. II; Hdb. jüd. AutorInnen; G. Günther, in: NÖB 4, S. 156ff. (m. B.); R. Granichstaedten-Cerva u. a., Altösterr. Unternehmer, 1969; J. K. Bramann, in: Zeitgeschichte 2, 1974, H. 2, S. 29ff.; Die evang. Gmd. HB in Wien, ed. P. Karner, 1986, S. 88ff. (auch für Ludwig W.); A. S. Janick – H. Veigl, W. in Wien, 1998; J. Kovařík, in: Slánský obzor 7, 1999, S. 7ff.; G. Gaugusch, in: Adler. Z. für Geneal. und Heraldik 21, 2001, S. 120ff.; M. Myška u. a., Historická enc. podnikatelů Čech, Moravy a Slezska do poloviny XX. století, 2003, S. 508; B. Schwaner, Die W.s, 2008, S. 20ff.; R. L. Rudolph, Banking and Industrialization in Austria-Hungary, 2008, s. Reg.; A. Waugh, The House of W., 2008, s. Reg.; M. Salzer – P. Karner, Vom Christbaum zur Ringstraße, 2. Aufl. 2009, S. 156ff.; J. Kovařík u. a., Ocelový král K. W., mecenáš a sběratel, 2010; R. Sandgruber, Traumzeit für Millionäre, 2013, s. Reg. (auch für Ludwig W.); H. Wittgenstein, Familienerinnerungen, ed. I. Somavilla, 2015, S. 56ff., 338f.; TU, Wien.
(R. Luft)  
PUBLIKATION: ÖBL 1815-1950, Bd. 16 (Lfg. 71, 2020), S. 293f.
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