Benussi, Vittorio (1878–1927), Psychologe und Philosoph

Benussi Vittorio, Psychologe und Philosoph. Geb. Triest, Freie Stadt (Trieste, I), 17. 1. 1878; gest. Padova (I), 24. 11. 1927 (Suizid); röm.-kath., später Atheist. Sohn von →Bernardo Benussi; ab 1907 verheiratet mit der Lehrerin Wilhelmine Liel von Bernstett (1869–1941). – Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte B. ab 1896/97 italienische und deutsche Philologie, ab 1899/1900 Philosophie und Psychologie bei →Alexius Meinong von Handschuchsheim, →Hugo Spitzer und →Stephan Witasek an der Universität Graz. 1901 Dr. phil. mit einer experimentalpsychologischen Dissertation, fungierte er im selben Jahr als zweiter Assistent am Psychologischen Laboratorium der Universität Graz und, um sich finanziell abzusichern, als Bibliothekar an der Universitätsbibliothek. 1905 habilitierte er sich für Philosophie und Psychologie und wirkte in Graz bis 1918 als Privatdozent und de facto als Leiter des Psychologischen Laboratoriums, das Meinong von Handschuchsheim 1894 als erste experimentalpsychologische Einrichtung in der Monarchie gegründet hatte. In Graz entwickelte B. ein imponierendes experimentelles Forschungsprogramm, das sich der Analyse geometrisch-optischer Täuschungen, der Gestalt-, Zeit- und Bewegungswahrnehmung sowie der Aussagepsychologie widmete. In seinen Arbeiten zur Gestaltwahrnehmung unterschied B. ausgehend von der „Produktionstheorie“ Meinongs von Handschuchsheim zwei Klassen von Vorstellungen „sinnlicher“ und „außersinnlicher Provenienz“. Während erstere eindeutig durch den sensorischen Reiz bestimmt werden, entspricht bei letzteren eine konstante Reizlage einer variablen Wahrnehmungsleistung – paradigmatisch bei Fällen von „Gestaltmehrdeutigkeit“, d. h. bei Gestalten, deren Organisation sich durch eine Änderung der Einstellung des Beobachters beeinflussen lässt. Diese Unterscheidung wird sowohl durch die Analyse von Vexierbildern, aber auch von Punkt- oder Linienkomplexen verdeutlicht, die vom Betrachter unterschiedlich gruppiert werden können, sowie durch optische Täuschungen, bei denen die Annahme einer analytischen oder synthetischen Haltung eine Änderung (Verringerung oder Erhöhung) der Intensität der Täuschungswerte mit sich bringt. Dies gilt zudem für die subjektiven Veränderungen, die die Wahrnehmung der zeitlichen Dauer und des zeitlichen Flusses charakterisiert. Durch Anregung des Kriminologen →Hanns Gross führte B. Studien auf dem Gebiet der Aussagepsychologie durch, insbesondere über die „Atmungssymptome der Lüge und Aufrichtigkeit“ einer Person, die vor einem breiten Publikum ein Zeugnis ablegen muss. Durch die Entwicklung pneumographischer Techniken zur Kontrolle und Messung solcher „Symptome“ nahm B. 1914 den Lügendetektor vorweg, der einige Jahre später von William Marston entwickelt wurde. Trotz dieser bahnbrechenden Studien, die ihn unter die produktivsten experimentellen österreichischen Psychologen einreihten, konnte B. aufgrund der deutschnationalen Einstellung der philosophischen Fakultäten keine akademische Anstellung in Österreich finden. Die Kriegsjahre waren für ihn besonders schwierig. Durch familiäre Schicksalsschläge und gesundheitliche Probleme gezeichnet, wurden in dieser Zeit auch die theoretischen Grundlagen seiner wahrnehmungspsychologischen Forschung infrage gestellt. Mit dem internationalen Siegeszug der Berlin-Frankfurter Gestalttheorie trat B. und mit ihm die österreichische Gestaltpsychologie immer mehr in den Hintergrund. Da B. nach dem 1. Weltkrieg italienischer Staatsbürger wurde, erhielt er 1919 eine Vertretungsprofessur an der Universität Padova, die 1922 in einen Lehrstuhl für Experimentelle Psychologie umgewandelt wurde. In Padova setzte er nicht nur seine früheren Untersuchungen fort, sondern initiierte auch wegweisende Forschungen betreffend eine „reale psychische Analyse“ unter Verwendung von Suggestion und Hypnose. So konnte er die Prozesse und Funktionen des psychischen Lebens, insbesondere die intellektuellen und emotionalen Funktionen, aus ihrer globalen funktionalen Einheit (im „realen“ und nicht bloß begrifflichen oder metaphorischen Sinne) herauslösen, um sie besser in ihrer Interdependenz zu untersuchen. Die so eingeschlagene Richtung führte B. dazu, sich der Psychoanalyse zu nähern, der er allerdings immer mit der rigorosen Denkweise eines Experimentators gegenüberstand. Aufgrund einer langjährigen schweren bipolaren Störung, die während der Kriegsjahre und dann in Padova immer stärker wurde, setzte B. seinem Leben ein Ende. Sein Erbe wurde von seinem Schüler Cesare Musatti übernommen, der in der Wahrnehmungspsychologie den Versuch unternahm, B.s Standpunkt mit demjenigen der Berliner Gestaltpsychologie zu versöhnen und durch seine Schüler Fabio Metelli, Gaetano Kanizsa und Paolo Bozzi der italienischen Gestaltpsychologie in der Nachkriegszeit internationale Relevanz verlieh.

W. (s. auch Antonelli, 2018): Psychologische Schriften 1–2, ed. M. Antonelli, 2002; Scritti (1905–27), ed. M. Antonelli, 2006.
L.: E. G. Boring, A history of experimental psychology, 2. Aufl. 1950; M. Antonelli, Die experimentelle Analyse des Bewußtseins bei V. B., 1994; M. Antonelli, V. B. in the History of Psychology, 2018 (mit Bild und W.); AVA, Wien; UA, Graz, Steiermark; Archivio Storico della Psicologia Italiana, Milano, I.
(M. Antonelli)   
Zuletzt aktualisiert: 20.12.2021  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 10 (20.12.2021)