Gellner (Gelner), František; Ps. Catilina, J. Štika, Norbert Čížek, Robert Čížek etc. (1881–1914), Schriftsteller, Journalist und Zeichner

Gellner (Gelner) František, Ps. Catilina, J. Štika, Norbert Čížek, Robert Čížek etc., Schriftsteller, Journalist und Zeichner. Geb. Jungbunzlau, Böhmen (Mladá Boleslav, CZ), 19. 6. 1881; gest. an der galizischen Kriegsfront, 13. 9. 1914 (laut Todeserklärung); mos., ab 1900 konfessionslos. Aus einer assimilierten mittellosen tschechischen Kaufmannsfamilie mit kulturellen und politischen Interessen stammend; Sohn des Geschäftsmanns Carl Gellner. – G. besuchte 1891–99 das Gymnasium, wo er bereits mit eigenen Versen, Übersetzungen aus dem Deutschen (Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Friedrich Nietzsche, Max Stirner) und Zeichnungen an literarischen Projekten (Herausgabe der Schulzeitschriften „Lípa“, „Lucerna“, „Péle-méle“ und „Mládí“) mitarbeitete. 1899/1900 studierte er an der Bauschule der Technischen Hochschule in Wien und knüpfte Kontakte zur anarchistischen Szene. Er kehrte jedoch 1901 nach Böhmen zurück, wo er zum Kreis um →Stanislav Neumann, Josef Mach, Leo Freimuth, Marie Majerová, Fráňa Šrámek und →Karel Toman zählte und in der Zeitschrift „Nový kult“ veröffentlichte. 1901 studierte er an der Bergakademie in Přibram, brach allerdings das Studium bald wieder ab. 1904 leistete er ein Jahr Militärdienst in Leitmeritz. Danach widmete er sich in München der Malerei, um sich kurz darauf nach Paris zu begeben, wo er Illustrationen für die satirischen Zeitschriften „Le Cri de Paris“, „Le Rire“ und „Les temps nouveau“ anfertigte. Dort stand er neuerlich in Kontakt mit dem tschechischen anarchistischen Zirkel (Majerová, Helena Malířová, Toman). Wegen einer Erkrankung seines Vaters kehrte G. 1908 nach Böhmen zurück, begann 1909 an der Kunstakademie in Dresden zu studieren, übersiedelte jedoch nach einem Jahr neuerlich nach Paris. Ab Mitte 1911 lebte er in Brünn, wo er durch Vermittlung Neumanns Mitarbeiter der führenden Zeitung „Lidové noviny“ wurde, zuerst als freiberuflicher Karikaturist. Später gehörte er der Redaktion an und übernahm den literarischen Teil von deren Sonntagsbeilage „Večery“. In Brünn war G. als Geschäftsführer des Občanský klub Lidové strany pokrokové auch politisch tätig. Trotz Krankheit rückte er im August 1914 in Jungbunzlau ein und kam an die galizische Kriegsfront. Im September 1914 wurde er für verschollen erklärt. Spätere Gerüchte, er sei in russische Kriegsgefangenschaft geraten, erwiesen sich als falsch. Schon 1896 hatte G. sein erstes Gedicht in der satirischen Zeitschrift „Švanda dudák“ publiziert. In seinen frühen Gedichtsammlungen „Po nás ať přijde potopa“ (1901) und „Radosti života“ (1903) bezog er zu bürgerlichen Werten (Patriotismus, Familie, Karriere) zynisch und rebellisch aufgrund eigener Erfahrungen (u. a. auch in Form eines lyrischen Tagebuchs) Stellung. Er positionierte sich dabei programmatisch antiliterarisch (Umgangssprache, einfacher Ausdruck, keine Symbolik) gegen die zeitgenössische symbolistische Poesie, auch durch die bewusste Verwendung stilistisch unpoetischer Ausdrücke und Motive. In seiner konsequenten Ironisierung des eigenen rebellischen Verhaltens erzielte er ein in der damaligen Literatur noch kaum erreichtes Ausmaß bis hin zur Absurdität. In seiner dritten, posthum von Neumann herausgegebenen Sammlung „Nové verše“ (1919) beschreibt G. seine Aufenthalte im Ausland sowie in Brünn mit einer skeptisch-sachlichen Distanz, wobei er die Einsamkeit des Individuums und die Unberechenbarkeit des schicksalhaften Verlaufs thematisiert. In seinem längeren epischen Gedicht „Don Juan“ (1912) demystifiziert G. die Helden aus seinem früheren Schaffen, indem er sie in die Gegenwart versetzt. Weniger bekannt sind seine Prosawerke. In seinen Erzählungen („Cesta do hor a jiné povídky“, 1914) schildert G. unsentimental sowie mit einem feinen Sinn für Details und Humor seine Erfahrungen in der Kleinstadt, v. a. aber das Familienleben in einem jüdischen Milieu. Weitere belletristische Versuche blieben erfolglos („Potulný národ, 1912; „Přístav manželství“, 1902, posthum 1928 erschienen). In seinen zahlreichen Satiren, einigen Feuilletons und Karikaturen, die er u. a. in den Zeitschriften „Letáky“, „Rudé květy“, „Šibeničky“, später in „Večery“ oder „Zlatá Praha“ veröffentlichte, parodierte er die zeitgenössische tschechische und österreichische Politik (Klerikalismus, Militarismus, unkritischer Patriotismus) oder informierte über Kunst und Politik in kritischen Analysen mit beißender (Selbst-)Ironie.

Weitere W. (s. auch LČL): Spisy F. G., 3 Bde., ed. M. Hýsek, 1926–28; Dílo, 2 Bde., ed. J. Flaišman u. a., 2014. – Nachlass: Literární archiv PNP, Praha, CZ.
L.: Čas, 19. 10., 18. 12. 1914; Právo lidu, 19. 10. 1914; LČL (mit W.); Masaryk; Otto, Erg.Bd.; Toman; V. Dyk, in: Lumír 45, 1917, S. 478f.; J. Štindlová-Sobotníková, F. G., phil. Diss. Praha, 1953; F. Buriánek, Bezruč – Toman – G. – Šrámek. Studie o básnících počátku našeho věku, 1955, S. 151ff.; M. Červenka, Symboly, písně a mýty, 1966, s. Reg; B. Svozil, in: F. G., Tichý život a jiné prózy, 1967, S. 7ff.; P. Koukal, Trubači revolt, 1984, S. 65ff.; M. Procházka, in: Prameny české moderní kultury, 1988, S. 166ff.; M. Sedmidubský, Die Struktur der tschechischen Lyrik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 1988, s. Reg.; P. Kovařík, Literární mýty, záhady a aféry, 2003, S. 144ff.; I. Gejgušová, F. G. prozaik a publicista, 2007; L. Peisertová, in: Slovo a smysl 6, 2009, S. 289ff.; L. Kořínková, F. G. Text – obraz – kontext, phil. Diss. Praha, 2015; TU, Wien.
(V. Petrbok)   
Zuletzt aktualisiert: 25.11.2016  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 5 (25.11.2016)