Groag, Edmund (1873–1945), Historiker und Bibliothekar

Groag Edmund, Historiker und Bibliothekar. Geb. Prerau, Mähren (Přerov, CZ), 2. 2. 1873; gest. Wien, 19. 8. 1945 (seit 1950 begraben Havlíčkův Brod, CZ); mos., ab 1901 röm.-kath. Sohn des Eisenbahningenieurs und Streckenvorstands der Kaiser Ferdinands-Nordbahn Berthold Groag (geb. Prerau, 1842; gest. ebd., 1878) und der Schriftstellerin Charlotte Groag, geb. Karpeles, Ps. Carola Belmonte-Groag, Carola Karpeles-Buchheim (geb. 2. 10. 1851; gest. 17. 1. 1928), der Tochter des Rabbiners Elias Karpeles, Bruder der Schauspielerin Pauline (Paulina) Groag, verehel. Rappaport, Künstlername Paula Belmonte (geb. 19. 6. 1876), die im Jänner 1942 mit ihrem Mann von Berlin nach Riga deportiert wurde, Neffe u. a. von →Gustav Karpeles und →Ludwig Karell; ab 1928 verheiratet mit Alberta Schaschek (Šašek) (geb. Prag, Böhmen / Praha, CZ, 15. 4. 1876; gest. 1959). – Nach der Matura 1892 begann G. ein Studium der Geschichte (1893–95 Mitglied des Historischen Seminars) sowie der Alten Geschichte und Altertumswissenschaft an der Universität Wien, u. a. bei →Max Büdinger und →Eugen Bormann; 1895 Dr. phil. aufgrund seiner Dissertation „Zur Kritik von Tacitus’ Quellen in den Historien“ (gedruckt 1897). 1894–98 arbeitete er im Auftrag der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien an der Indizierung der „Historia gestorum generalis synodi Basiliensis“ des Johannes von Segovia. Zusammen mit seinem Studienfreund →Arthur Stein verfasste er ab 1896 Beiträge für den 3. Bd. (1897) von „Pauly’s Realencyclopädie für das classische Altertum“ (RE), wobei sich G. auf die römischen Senatoren spezialisierte. 1896–98 war er Stipendiat und 1899–1901 Bibliothekar am Archäologisch-Epigraphischen Seminar (1898/99 Reisestipendium nach Italien). 1901 fand G. zunächst als unbesoldeter Volontär an der Hofbibliothek in Wien Beschäftigung, wo er 1906 zum Assistenten, 1909 zum Kustosassistenten und 1913 zum Kustos 2. Klasse aufstieg, ab 1917 auch in der Münz- und Medaillensammlung eingesetzt wurde und 1919 Kustos 1. Klasse wurde. Damals erschien seine Sammlung „Die römischen Inschriftensteine der Hofbibliothek“ (1913). 1915 beauftragte die Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin G. und Stein mit der Herausgabe des letzten Bands der „Prosopographia Imperii Romani“ (PIR), wobei G. für die Senatoren zuständig war. Bereits 1926 wurde dieser aber zugunsten einer vollständig neu bearbeiteten 2. Aufl. aufgegeben. Im Jänner 1939 kündigte die Akademie die weitere Zusammenarbeit aus „rassischen“ Gründen auf. Anders als Stein lehnte G. eine Übergabe seiner Materialsammlung ab. Der 3. Bd. der PIR, das Lebenswerk der beiden, erschien 1943 – Stein und G. wurden nur noch im Vorwort genannt. 1919 mit „Studien zur römischen Kaisergeschichte“ an der Universität Wien habilitiert, wirkte G. dort zunächst als Privatdozent und ab 1925 als ao. Professor. Daneben arbeitete er weiterhin primär an der Hof- bzw. Nationalbibliothek, wo er 1921 Leiter der Katalogisierungsabteilung der Druckschriftensammlung, 1923 provisorischer Leiter der Druckschriftensammlung und 1925 Oberstaatsbibliothekar wurde; 1926 Hofrat. Aufgrund eines Konflikts mit →Josef Bick, der ebenso wie G. Freimaurer war, wurde G. 1931 als Leiter der Druckschriftensammlung abgesetzt. Nach einer erfolglosen Bewerbung um die Direktorenstelle an der Bibliothek der Technischen Hochschule in Wien wurde er 1932 aufgrund von Sparmaßnahmen in den zeitlichen, 1936 in den endgültigen Ruhestand versetzt. An der Universität verlor er die venia legendi 1938 aus „rassischen“ Gründen und erhielt sie erst kurz vor seinem Tod zurück. G.s Forschungen galten v. a. der Prosopographie und Struktur der Verwaltung der römischen Kaiserzeit in Rom und seinen Provinzen. Hierzu erschienen u. a. „Hannibal als Politiker“ (1929; Nachdruck 1967), „Die römischen Reichsbeamten von Achaia bis auf Diokletian“ (1939; Reprints 1967, 1976, 1986), die G. für das bosnisch-herzegowinische Institut für Balkanforschung bearbeitete, sowie posthum „Die Reichsbeamten von Achaia in spätrömischer Zeit“ (1946; Nachdruck 1966). Daneben engagierte sich G. in der Frauen- und Mädchenbildung, indem er Vorträge an der Frauenhochschule Athenäum hielt, Geschichte, Geographie, Latein und Griechisch im Rahmen der Gymnasialkurse für Frauen und Mädchen der Gesellschaft der Schwarzwald’schen Schulanstalten am Kohlmarkt (1904–09) sowie jener des Cottage-Lyzeums (1909–13) unterrichtete, referierte aber auch an Volkshochschulen. Als Teilnehmer des Arnoldkreises (→Robert Franz Arnold) lernte er →Josef Körner kennen, mit dem er in der Folge korrespondierte. Da G.s Frau in der NS-Zeit als „Arierin“ galt und dank erfolgreicher Intervention der Akademie der Wissenschaften in Wien konnte das Ehepaar in seiner Wohnung bleiben. Dort veranstaltete es ab März 1942 Zusammenkünfte, an denen →Stephan Brassloff, →Gertrud Herzog-Hauser und andere ebenfalls 1938 von der Universität Wien entfernte Lehrende teilnahmen. G. war ab 1902 korrespondierendes Mitglied des Österreichischen Archäologischen Instituts, ab 1915 der Numismatischen Gesellschaft in Wien, ab 1933 der Deutschen Gesellschaft der Wissenschaften und Künste in Prag sowie 1933–38 o. Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts. Ferner fungierte er als Vizepräsident des Wiener Tierschutzvereins.

Weitere W.: s. Kowall.
L.: M. Kowall, Die 1938 von der Universität verwiesenen Mitglieder des akademischen Lehrkörpers …, phil. Diss. Wien, 1983, S. 31f., 118f. (mit W.); S. Rebenich, in: Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Nationalsozialismus und Faschismus, ed. B. Näf, 2001, S. 219f., 234; F. Fellner – D. A. Corradini, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, 2006; A. L. Staudacher, „... meldet den Austritt aus dem mosaischen Glauben“, 2009; M. Pesditschek, in: Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus, ed. M. G. Ash u. a., 2010, S. 288f.; K. Wachtel, in: Tyche 25, 2010, S. 173ff.; K. Wachtel, in: Österreichische Historiker, ed. K. Hruza, 2, 2012, S. 129ff.; AVA, Österreichische Nationalbibliothek, UA, Universität Wien (Institut für Alte Geschichte und Altertumskunde, Papyrologie und Epigraphik), alle Wien.
(M. Pesditschek)   
Zuletzt aktualisiert: 20.12.2021  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 10 (20.12.2021)