Fanta (Fantová), Berta (Bertha); geb. Sohr (1865–1918), Salonière und Frauenrechtlerin

Fanta (Fantová) Berta (Bertha), geb. Sohr, Salonière und Frauenrechtlerin. Geb. Libochowitz, Böhmen (Libochovice, CZ), 19. 5. 1865; gest. Praha, Tschechoslowakei (CZ), 18. 12. 1918; mos. Tochter des Gemischtwarenhändlers Albert Sohr (1838–1914) und seiner Frau Emilie Sohr, geb. Engel (1844–1908), Wohltäterin und Schriftführerin des Israelitischen Frauen-Vereins für Königliche Weinberge, Schwester der Malerin, Gründerin des Klubs deutscher Künstlerinnen und der Christusgemeinschaft (1925) Ida Sohr, verheiratete Freund (1868–1931), Mutter von Otto Fanta (geb. Prag, Böhmen / Praha, CZ, 26. 10. 1890; gest. London, GB, 1940), Lehrer und Graphologe, und Elsa Bergmann (geb. Prag, 28. 7. 1886; gest. Jerusalem/Yerushalayim, IL, 1969), der ersten in Österreich-Ungarn promovierten Pharmazeutin, Mitbegründerin und Vorsitzenden des Klubs jüdischer Frauen und Mädchen (1913) und Ehefrau des Philosophen Hugo Bergmann; ab 1884 mit dem Prager Apotheker und Erfinder der Fantaschale Max Markus Fanta (1858–1925) verheiratet. – F. wuchs in einer wohlhabenden Familie auf, die aktiv am religiösen und gesellschaftlichen Leben der Gemeinde teilnahm. Zusammen mit ihrer Schwester wurde sie nach Prag zu Verwandten geschickt und besuchte die Erziehungsanstalt für höhere Töchter. Mit ihrem Mann zog sie in das von Emilie Sohr erworbene Haus Zum weissen Einhorn am Altstädter Ring, in dem Max F. weiterhin seine Apotheke führte. F. erwarb eine gute philosophische und literarische Bildung und belegte als Privatistin an der Prager deutschen Universität u. a. Kurse von Anton Marthy. Sie beteiligte sich an den Diskussionen des sogenannten Brentano- bzw. Louvre-Zirkels im Café Louvre zusammen mit dem Experimentalpsychologen Josef Eisenhammer, mit →Alfred Kastil, →Oskar Kraus, Jan Baron Nadherny, →Paul Amann, Max Brod, →Franz Kafka, Emil Utitz, Felix Weltsch und Robert Weltsch, Oskar Pollak sowie →Franz Werfel. Eine besondere Rolle unter ihnen spielte Hugo Bergmann, der damalige Bibliothekar der Prager Universitätsbibliothek, auf dessen Anregung F. literarische, musikalische und philosophische Abende („Fanta-Abende“ bzw. „Fanta-Kreis“, u. a. zu Johann Gottlieb Fichte, →Sigmund Freud, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Nietzsche, Richard Wagner oder zur Bhagavad Gita) im Familienhaus und in der Villa in Prag-Podbaba veranstaltete. Zu den Gästen des Salons gehörten u. a. Professoren der Prager deutschen Universität, darunter Albert Einstein (1912 Diskussion über die Relativitätstheorie), der Physiker Philipp Frank, der Mathematiker Gerhard Kowalewski, →Christian Freiherr von Ehrenfels, aber auch →Rudolf Steiner. F.s fachliche Interessen und ihre zunehmende soziale und karitative Tätigkeit belegen einen allmählichen Wandel von einer deutschliberal-bürgerlich orientierten Weltanschauung hin zum Zionismus. Ab ca. 1900 hielt sie auch selbst Vorträge über Kunst, Ethik und Philosophie im emanzipatorischen Prager Verein Frauenfortschritt (z. B. 1902 im Deutschen Casino), über jüdische Mystik und Philosophie beim Bund jüdischer Frauen und Mädchen (Pilsen, 1911) oder leitete philosophische Leseabende beim Klub deutscher Künstlerinnen in Prag (auch in der Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag). Mit ihrer Tätigkeit im Bereich der Frauenbildung gehörte F. nicht nur dem Jüdischen Bildungsverein, sondern einem freieren „weiblichen Prager Kreis“ an (zusammen mit Elsa Brod, der Ehefrau von Max Brod, dessen Schwester Sophie Friedmann, Ottla Kafka, der Schwester von →Franz Kafka, und Else Bergmann). Außerdem entwickelte sie eine rege soziale und karitative Tätigkeit (Deutsche Landeskommission für Kinderschutz und Jugendfürsorge) und beschäftigte sich mit Volks- und Kinderbildung (Urania). 1911 gründete sie die deutsche Sektion der Böhmischen Theosophischen Gesellschaft (ab 1912 Bolzano-Verein, deutsche anthroposophische Gesellschaft in Prag) und stand in Kontakt mit Steiner, den sie mehrmals in Berlin besuchte. Ihre zahlreichen Beiträge veröffentlichte F. in der „Prager Frauen-Zeitung“. Zu Beginn des 1. Weltkriegs absolvierte sie einen Krankenpflegerinnenkurs am jüdischen Spital in Prag und meldete sich als Rot-Kreuz-Schwester an die Front, wo sie ihren Schwiegersohn traf und dessen neue Verwendung als Übersetzer dank Vermittlung von Steiner erwirkte. Zusammen mit ihrer Schwester setzte F. sich für jüdische Kriegsflüchtlinge aus Galizien ein. Sie starb während der Vorbereitungen zur Auswanderung nach Palästina.

W.: Nachlass: Leo Baeck Institute, New York City, NY, USA.
L.: Prager Tagblatt, 20. 12. 1918; Hdb. jüd. AutorInnen; M. Brod, in: Selbstwehr 13, 1919, Nr. 2, S. 3f.; G. Kowalewski, Leben und Wandel, 1950, S. 249ff.; M. Brod, Streitbares Leben, 2. Aufl. 1969, S. 170f.; S. H. Bergmann, Tagebücher & Briefe 1–2, 1985, s. Reg.; W. Iggers, in: Von einer Welt in die andere. Jüdinnen im 19. und 20. Jahrhundert, ed. J. Dick – Ch. v. Braun, 1993, S. 157f.; J. Dick – M. Sassenberg, Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, 1993, S. 112f.; H. Binder, in: Sudetenland 38, 1996, S. 106ff., 52, 2010, S. 258ff., 394ff.; T. Zdražil, in: Paginae historicae, 1998, S. 26ff.; W. Iggers, Frauenleben in Prag, 2000, S. 165ff.; G. Gimpl, Weil der Boden selbst hier brennt. Aus dem Prager Salon der B. F. (1865–1914), 2001; G. Gimpl, in: Das Wesen Österreichs ist nicht Zentrum, sondern Peripherie, 2002, S. 57ff.; M. Dean-Otting, in: Forging modern Jewish Identities, ed. M. Berkowitz u. a., 2003, S. 229ff.; M. Wein, History of the Jews in the Bohemian Lands, 2015, S. 54f.; T. Arndt – F. Dohnal, in: Dvacáté století – The Twentieth Century 9, 2017, S. 120ff.; The Yivo Encyclopaedia of Jews in Eastern Europe (online, Zugriff 29. 6. 2020).
(V. Petrbok)   
Zuletzt aktualisiert: 15.12.2020  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 9 (15.12.2020)