Graf, Max (1873–1958), Journalist

Graf Max, Journalist. Geb. Wien, 1. 10. 1873; gest. ebd., 24. 6. 1958 (Ehrengrab: Zentralfriedhof); mos., 1898 aus der IKG ausgetreten, in den 1920er-Jahren wieder eingetreten. Sohn des Journalisten Josef Graf (geb. 2. 12. 1847; gest. 3. 6. 1908) und von Regine Graf, geb. Lederer (geb. 3. 1. 1855; gest. 27. 11. 1909), Vater des Regisseurs Herbert Graf (geb. 10. 4. 1903; gest. 5. 4. 1973); 1898–1919 (Scheidung) in 1. Ehe mit Olga Graf, geb. Hönig, ab 1920 in 2. Ehe mit Rosa Graf, geb. Zentner (geb. Esseg, Ungarn / Osijek, HR, 11. 12. 1895; gest. 26. 10. 1928), ab 1929 in 3. Ehe mit der Staatsopernsängerin Leopoldine Graf, geb. Batic, verheiratet. – G. besuchte zunächst das Stefans-Gymnasium in Prag und maturierte am Akademischen Gymnasium in Wien. Zu seinen dortigen Schulfreunden zählten →Julius Bittner und der Journalist Robert Scheu. Ab Herbst 1891 studierte er Rechtswissenschaften bei →Adolf Exner und →Franz Klein an der Universität Wien. Daneben hörte er Vorlesungen über Musikästhetik, -theorie und -geschichte bei →Eduard Hanslick und →Anton Bruckner, mit dem er seine Verehrung für Richard Wagner teilte, außerdem u. a. bei →Franz Brentano, →Alfred Freiherr von Berger, →Max Dvořák und Franz Wickhoff sowie bei →Engelbert Mühlbacher am Institut für österreichische Geschichtsforschung; 1896 Dr. iur. und Dr. phil. Als Student kam er im Café Griensteidl mit Literaten wie →Hermann Bahr, Alfred Polgar, Peter Altenberg (→Richard Engländer), Friedrich Eckstein, →Richard Beer-Hofmann, →Stefan Grossmann oder →Otto Stoessl in Kontakt. Schon als 20-Jähriger schrieb er Musikkritiken für die von seinem Vater herausgegebenen Blätter „Wiener Montags-Journal“ und „Musikalische Rundschau“. Bereits in seinen ersten Artikeln machte sich G. einen Namen, indem er die Autorität Hanslicks und →Max Kalbecks, zwei der bedeutendsten Kritiker der Jahrhundertwende, mit Witz und Ironie in Frage stellte. Ab 1894 verfasste er Musikfeuilletons für „Die Zeit“ und ab 1896 für die „Wiener Rundschau“. 1898 erschien sein erstes Buch „Deutsche Musik im 19. Jahrhundert“, in dem seine große Verehrung für Wagner erkennbar wurde. Ab 1901 wirkte er als Musikkritiker des „Neuen Wiener Journals“, ab 1903 als Musik- und Burgtheaterkritiker der „Wiener Allgemeinen Zeitung“. Bald war er mit führenden Vertretern der neuen Musik, wie →Alban Berg, Anton von Webern und Alexander von Zemlinsky und durch Letzteren mit Arnold Schönberg, später auch mit →Gustav Mahler bekannt und befreundet. Ab 1906 schrieb er auf Einladung von →Moritz Benedikt einige Jahre lang Musikkritiken für die „Neue Freie Presse“. Die „Frankfurter Zeitung“ entsandte ihn 1909 nach Paris, wo er u. a. Claude Debussy und August Strindberg kennenlernte. Schon vor 1914 war er Mitarbeiter des „Prager Tagblatts“, des „Berliner Tageblatts“, der „Vossischen Zeitung“, des Theaterjahrbuchs „Thalia“, der Zeitschrift „Bühne und Welt“ und internationaler Musikjournale. Für die von →Richard Strauss, mit dem er befreundet war, initiierte Buchreihe „Die Musik“ verfasste er die Monographie „Die Musik im Zeitalter der Renaissance“ (1905). Mit dem Werk von Egon Wellesz beschäftigte er sich als Journalist und Schriftsteller ein Leben lang. Schon früh zeigte G. auch Interesse für Politik: Durch seinen Vater lernte er namhafte Vertreter der Christlichsozialen Partei kennen, weiters solche der Wiener Fabier-Gesellschaft wie →Michael Hainisch, →Eugen Philippovich von Philippsberg und die Herausgeber der Wochenschrift „Die Zeit“, →Isidor Singer und Heinrich Kanner. G. schloss sich schließlich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs an, die er wegen der kulturpolitischen Impulse, die das Rote Wien seit 1919 setzte, schätzte. 1927 betraute ihn die Stadt mit der Organisation des alljährlich stattfindenden Musikfests und berief ihn auch in das Kollegium, das die Kompositionspreise verlieh. Später knüpfte er freundschaftliche Beziehungen zu führenden Sozialdemokraten wie →Hugo Breitner oder Wilhelm Ellenbogen. Ab 1902 war G. als Dozent zunächst am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien tätig, ab 1909 hielt er an der nunmehrigen Akademie für Musik und darstellende Kunst Vorlesungen über Ästhetik der Tonkunst (darüber publizierte er 1910 „Die innere Werkstatt des Musikers“, die von →Sigmund Freud beeinflusst war), 1913 Professor (Ausdehnung seines Lehrauftrags auf Musikgeschichte), 1938 erfolgte die Kündigung ohne jegliche finanzielle Entschädigung. G. hielt auch zahlreiche Vorträge an Volksbildungseinrichtungen. Im 1. Weltkrieg stand er ab 1914 im Rang eines Hauptmanns in militärischer Verwendung, erst im letzten Kriegsjahr wurde er dem Kriegs-Presse-Quartier zugeteilt. Nach Kriegsende kehrte er an die Akademie zurück. G. wirkte wieder als Kritiker, zunächst beim „Neuen Wiener Journal“, dann bei der „Wiener Sonn- und Montags-Zeitung“ und 1919–22 auch als Herausgeber des „Musikalischen Kuriers“. Ab 1922 fungierte G. als Musikkritiker des neu gegründeten linksliberalen Tagblatts „Der (Wiener) Tag“, bis 1932 als Redakteur und dann bis 1938 als Mitarbeiter; außerdem arbeitete er bei dem mit dem „Tag“ verbundenen Montagsblatt „Der Morgen“. Dabei trat er als ein entschiedener Verfechter und Förderer neuer Musik auf. Daneben war er für zahlreiche ausländische Tageszeitungen und Musikfachblätter tätig. G. war ein Meister der Verknüpfung von Musik- und Theater- mit der allgemeinen Kultur- und Sozialgeschichte Wiens, Österreichs und des übrigen Europa, selbst die Architekturgeschichte war ihm nicht fremd. Besonders zwischen 1918 und 1933 nahm er häufig zu gesellschaftspolitischen Fragen Stellung, so auch in kritischen Kommentaren für das Blatt „Die neue Wirtschaft“. Immer wieder setzte er sich mit der Stellung der Juden im österreichischen Kulturleben, ihrer Bedeutung für die österreichische Journalistik und dem wachsenden Antisemitismus auseinander. Ein Buch zur Geschichte der jüdischen Musik, an dem er Anfang der 1920er-Jahre zusammen mit Wellesz arbeitete, blieb unveröffentlicht, ebenso kam der Plan zur Gründung eines Instituts für jüdische Musikforschung nicht zur Ausführung. 1930–35 war G. Lektor im Rahmen der vom Austro-Amerikanischen Institut in Wien veranstalteten Musikkurse, wodurch er auch mit Alvin Johnson, dem Direktor der New School for Social Research in New York, bekannt wurde. Im Oktober 1938 emigrierte er in die USA. Sein Sohn befand sich bereits in New York, seine Gattin hingegen blieb während der Kriegsjahre in Wien zurück. Mit Empfehlungsschreiben von Arturo Toscanini und Strauss erhielt er von Johnson eine Stelle: 1939 nahm er in New York seine Lehrtätigkeit auf und erlangte später auch die US-Staatsbürgerschaft. 1940–46 leitete er an der New School ein Seminar für Musikkritik, das Vorbild für ähnliche Seminare an anderen Universitäten der USA wurde. Später war G. Visiting Professor des Carnegie Institute of Technology (Pittsburgh) und der Temple University (Philadelphia). Aus dieser Lehrtätigkeit entstand „Composer and Critic“ (1946), die erste umfassende Geschichte der europäischen Musikkritik vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart inklusive eines kursorischen Überblicks über die zeitgenössische Musikkritik in den USA. 1947 kehrte G. auf Einladung von Unterrichtsminister Felix Hurdes nach Wien zurück und präsentierte seine „Legend of a Musical City“ (1945; deutsch: „Legende einer Musikstadt“, 1949). G. nahm im Oktober seine Lehrtätigkeit an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst wieder auf, eine volle Professur blieb ihm aber verwehrt. 1950 musste er seine Lehrtätigkeit altersbedingt aufgeben, erhielt jedoch keine staatliche Pension. Seine Arbeit als Musikkritiker setzte er anfangs für die „Welt am Abend“, danach für „Die Weltpresse“ und nebenbei für das „Neue Österreich“ fort. Er hielt überdies Vorträge für Radio-Wien und ausländische Sender. Seine Verbundenheit mit Wien blieb ungebrochen: In keiner anderen europäischen Stadt sah er eine so harmonische Verbindung von Natur, Geschichte und Kunst gegeben. Weiterhin ein engagierter Verfechter der neuen Musik, widmete er ihr die Bücher „Modern Music“ (1946) und „Geschichte und Geist der modernen Musik“ (1953). G. hielt bis Mitte der 1950er-Jahre Kurse an der New School in New York sowie im Rahmen der Internationalen Sommerakademie in Salzburg 1948 und 1949 ein Seminar über Musikkritik. 1952 wurde er mit dem Preis der Stadt Wien für Publizistik ausgezeichnet. Er war u. a. ab 1900 Mitglied des Journalisten- und Schriftsteller-Vereins „Concordia“.

Weitere W.: Wagner-Probleme und andere Studien, 1900; R. Wagner im „Fliegenden Holländer“, 1911; Vier Gespräche über die deutsche Musik, 1931; From Beethoven to Shostakovich, 1947; Die Wiener Oper, 1955; Jede Stunde war erfüllt, 1957.
L.: NWT, 27. 10. 1911; Der Tag, 14., 28. 4., 6. 5., 9. 6. 1935; Czeike (mit Bild); Grove; Hdb. der Emigration 2; MGG; NDB; oeml; Wer ist’s?, 1935; Wininger; Österreicher der Gegenwart, bearb. R. Teichl, 1951; E. Mühlleitner, Biographisches Lexikon der Psychoanalyse, 1992; E. Krenek, Im Atem der Zeit, 1998, S. 853f.; AdR, Alfred-Klahr-Gesellschaft, Tagblatt-Archiv, Universität für Musik und darstellende Kunst, Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung, WStLA, alle Wien; Mitteilung Wendy Scher, New York City, NY, USA.
(Th. Venus)   
Zuletzt aktualisiert: 14.12.2018  
PUBLIKATION: ÖBL Online-Edition, Lfg. 7 (14.12.2018)